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VON: KERSTIN KILANOWSKI
FOTOS: IMKE LASS

 



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Infos zum Thema: Casablanca
"Ohne Mann bist du gesellschaftlich ein Nichts"

Sagt Amal Nassim, eine Marokkanerin, die in Casablanca wider alle Traditionen lebt. Reportage über junge Menschen im Aufbruch in der modernsten Metropole des Landes.

Dreißig Frauen kippen vor Lachen fast von den Samtpolstern. Karimas Witz kam gut: "In dieser praktischen Kunststoff-Box könnt ihr sogar euren Ehemann einfrieren." Am Teetisch neben dem gigantischen Turm von Haushaltsgeräten lassen die Besucherinnen explosionsartiges Gewieher los. Die Stereo-Anlage pumpt arabische Rhythmen in den Salon, dass der Kristall-Leuchter klirrt. Frauen zwischen 16 und 60 im eleganten Kostüm, mit bodenlanger Djellaba, in Jeans, Stretch-Top reißt es vom Diwan. Hüften kreisen, verhüllende Überkleider fallen, eine zieht sich die Träger runter und lässt zum Vergnügen aller mit Vehemenz den Busen beben. Tupper-Party auf Marokkanisch.

Amal Nassim liebt Tupper-Partys, weil sie dort Cousinen, Freundinnen, Kolleginnen treffen kann. "Der Salon ist bei uns ein wichtiger Ort für geselliges Zusammensein." Amals Cousine Karima, die Tupperware-Gastgeberin, hat gut vorgesorgt. Das Hausmädchen trägt ununterbrochen delikaten Nachschub rein: Blätterteigtaschen, selbst gemachtes Konfekt, Obstsäfte, Pfefferminz-Tee.

Amal ist 34 Jahre und Lehrerin an einer Hotelfachschule: "Obwohl die meisten Frauen hier in Casablanca berufstätig sind, gibt es außerhalb des Hauses kaum Möglichkeiten, wo wir ungestört zusammen sein können." Ungestört, das heißt ohne männlichen Blick. Den Blick, der taxiert, begehrt und verurteilt. Auf der Straße, im Café, im Souk. Im Salon, der arabischen Version des Wohnzimmers, treffen sich auch jene Frauen, die in der Öffentlichkeit unsichtbar sind.

Imane zum Beispiel. 38 Jahre, graue Djellaba, graues, überlanges Kopftuch, ein bildhübsches Gesicht, die von sich sagt: "Ich führe noch immer ein traditionelles Leben." Imane, die im Laufe der Frauen-Party das Kopftuch in die Ecke wirft und ihre schulterlange Mähne schüttelt. Die mit erhitztem Gesicht ruft: "Ein oder zweimal im Jahr lasse ich mich gehen. So wie heute. Wenn kein Mann dabei ist." Wir verabreden uns für den nächsten Tag. Vergebens. Ihr Mann behauptet barsch am Telefon, seine Frau sei "auf Reisen". Er knallt den Hörer auf. Kontakt abgebrochen. Das ist sein gutes Recht. Denn jede Marokkanerin hat einen gesetzlichen Vormund. Egal, ob mit sechs oder sechzig Jahren. Den Vater, Bruder oder Ehemann.

Auf dem Land und in den konservativen Städten stellt kaum jemand diese Verhältnisse in Frage. Aber in Casablanca lehnen sich immer mehr Frauen gegen den Status als lebenslang Unmündige auf.

Amal Nassim gehört zu jener widerspenstigen Frauengeneration, die sich nicht länger in die Zwangsjacke männlicher Vormundschaft pressen lässt. Amal hat ein Universitätsdiplom der Biologie in der Tasche, keine Arbeit gefunden, umgeschult in Sachen Gastronomie und Hotelfach. Und vor allem: Sie ist unverheiratet. "In Marokko ist das außergewöhnlich. Aber nach europäischen Maßstäben ist es mit meiner Emanzipation nicht weit her. Ich lebe mit 34 Jahren noch immer bei meinen Eltern." Wohnungsnot? Kein Geld? Nein. Keine Lust auf Nachbarn, die über die Ledige tuscheln. Scheu, die Eltern zu brüskieren.

Und dann die unverschämten Fragen der Vermieter. Eine Frau, die mit Mitte dreißig noch immer nicht verheiratet ist, da stimmt doch was nicht. Warum bloß will die alleine leben? Da wird hinter vorgehaltener Hand vermutet, spekuliert, wird gemunkelt. Kam sie gestern nicht reichlich spät nach Hause? Ein schickes Auto hat sie auch. Habt ihr das neue Kleid gesehen, ziemlich kurz. Und irgendwann ist es raus: Hure.

Mit solchen Frauen, denen unmoralisches Verhalten vorgeworfen wird, hat Amal zweimal in der Woche zu tun. Mit ledigen Müttern. Bei der Selbsthilfe-Organisation Solidarité Féminine suchen sie Schutz, denn Sex vor der Ehe ist noch immer ein Tabu, ob in einer Oase im Grand Sud oder im Großstadtmoloch Casablanca. Ledige Mütter haben die Gesetze der islamischen Gesellschaftsordnung gebrochen und werden in der Regel von ihrer Familie verstoßen. Die meisten Männer streiten die Vaterschaft problemlos ab, denn zu einem DNS-Test können sie nicht verpflichtet werden. Ohne nachweisbaren Kindsvater wird die Frau endgültig der Prostitution bezichtigt, einer Straftat, die bis zu sechs Monate Gefängnis einbringt. Wen wundert es, dass Marokkos Waisenhäuser überfüllt sind mit ausgesetzten Kleinkindern.

Unverheiratete Mütter mit ihren Babys finden bei Solidarité Féminine Hilfe in ihrer scheinbar aussichtslosen Lage. Gründerin der Organisation ist die inzwischen landesweit bekannte Sozialarbeiterin Aicha Ech-Channa. Mit sturer Beharrlichkeit trieb sie die notwendigen Projektgelder bei internationalen und marokkanischen Institutionen ein. Die ledigen Mütter erhalten nicht nur eine fundierte Rechtsberatung. Vor allem eignen sie sich Fähigkeiten an, mit denen sie ihr Überleben ohne eigene Familie sichern können. Viele von ihnen sind ehemalige Hausmädchen, Petites Bonnes, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind. "Ich bringe ihnen professionelles Kochen und Servieren bei. Die Idee kam mir, als ich in Agadir im Club Med gearbeitet habe", erzählt Amal, die gelernte Gastronomielehrerin. Was die ledigen Mütter in der Projekt-Küche zubereitet haben, verkaufen sie mit Profit im hauseigenen Restaurant und in den Imbissbuden beim zentralen Hospital.

Unübersehbar steht "Solidarité Féminine" an den Kiosken. Fisch und Pommes frites, Suppe, Hühnchen, Tee und Limonade gehen über die Theke. Die Garküchen sind bei Krankenhausbesuchern, den Arbeitern des Viertels und der Laufkundschaft beliebt. Zu einem Foto für die deutschen Reporterinnen ist allerdings kaum eine der Köchinnen bereit. "Weil die Familie meistens nicht weiß, was passiert ist. Viele sind in ihrer Not von zu Hause weggelaufen. Ein Foto in einer Zeitung brauchen sie am allerwenigsten", erklärt Amal das abweisende Verhalten. Das Haus liegt in einem zentralen Viertel in Casablanca, umgeben von Villen mit blühenden Gärten. "Wir wollen unsere Arbeit nicht verstecken. Und die Frauen sollen sich in einer ansprechenden Umgebung wohl fühlen können", so die Sozialarbeiterin Aicha Ech-Channa. Ein paar Fußminuten vom Frauenzentrum entfernt säumen Spiegel- und Marmorfassaden von Bürohäusern, Fluggesellschaften und Banken die Boulevards.

"Wir haben viele neue Banken in Casablanca." Amal lächelt hintergründig. "Mit nichts drin." Auch die futuristischen Türme des Shopping-Zentrums Twin Center erinnern an potemkinsche Dörfer. Einige teure Designer-Boutiquen, Pariser Juweliere, italienische Lederwaren – aber kaum Kunden. Und überall Schilder: "À louer", zu vermieten.

Amal und ihre Schwester Hannan kaufen lieber in der Medina (Altstadt) von Casablanca ein: "Da kann man’s wenigstens bezahlen." Die Medina, eine Art Fossil in der modernisierten Innenstadt, umzingelt und bedrängt von wildwüchsigen Bauvorhaben. Von Stadtplanung wagt man kaum zu sprechen. Und schön ist Casablanca, trotz des klangvollen Namens, sicherlich nicht. Um die zentrale Place des Nations Unies tobt ein enormer Autoverkehr: Legionen von schrottreifen Taxis, qualmenden Bussen – dazwischen quälen sich Blinde, Verwachsene, Alte, die die Hand nach einer milden Gabe ausstrecken.

"Madame, Dirham!", ruft der barfüßige Kleine. Amal schüttelt energisch den Kopf. "Madame, Dirham!!" Sie weiß, dass die Armen ihre Kinder oft auf die Straße statt in die Schule schicken. "Bitte!!!" Man sollte das nicht unterstützen. Amal seufzt und zückt ihre Börse. "Glitzermetropole Casablanca", steht in den Broschüren der Tourismus-Industrie, "moderne Stadt mit visionärem Charme." Nirgendwo sonst in Marokko treffen die Gegensätze so hart aufeinander. Landflüchtige in Lumpen und Jungunternehmer mit Handy. Tupperware für die Tiefkühlkost und öffentliche Waschstelle in der Medina. Die Bidonvilles ("Barackenstädte") aus Wellblech und Plastikplanen am Rand der Vorstädte und die weißen Strände entlang der Corniche. Im Ausgehviertel Ain Diab schieben sich wochenends nach Sonnenuntergang die Autokolonnen im Schritt-Tempo über die Boulevards. Leuchtreklamen von Nachtklubs, Dancing-Halls und Restaurants. Wer jung ist, gut aussieht und eine funktionierende Scheckkarte sein Eigen nennt, ist unterwegs. Saturday-Night-Fever in Casablanca.

Amal geht selten in Diskotheken. Die Eltern sehen das nicht gerne, und exorbitant teuer ist es auch. Für diese Nacht hat sie ihre Freundinnen zusammengetrommelt plus einen Cousin: "Wenigstens ein Mann muss dabei sein." Über den Klub sind sich alle einig: Villa Fandango, der momentane In-Place mit Gesichtskontrolle und Latino-Musik. Amal, Bouchra, Amina waren extra beim Friseur, tolles Make-up, glänzendes Haar, kühle Eleganz mit schickem Understatement. Eine Flasche Martini für alle, sonst wird der Abend unbezahlbar, bestellen muss Talal, der Mann. "Ohne Mann bist du gesellschaftlich ein Nichts", sagt Amal.

Trotzdem: Eine Ehe kommt auch für ihre Freundinnen nicht in Frage, etwa die 38-jährige Bouchra. Jedenfalls nicht mit einem Marokkaner. Auch wenn er sich noch so modern gibt, die Selbstständigkeit ist nach der Heirat futsch. Und eine rebellische Frau kann von ihrem Mann mit wenigen Worten verstoßen werden. Eine gerichtliche Scheidung existiert bis zum heutigen Tag nicht. Bouchra spricht vier Sprachen, arbeitet in der Verkaufsabteilung einer internationalen Firma und möchte das Land lieber heute als morgen verlassen. Die aparte Schönheit mit Kurzhaarschnitt zieht sich temperamentvoll die Jacke aus und legt mit nackten Schultern einen Salsa aufs Parkett. Dort geht es zu wie in jedem fashionablen Night-Club, ob in Paris, London oder Berlin. Hübsche Frauen feiern ihre Jugend und ihren Körper – mal gewagt dekolletiert, mal in rasanten Jeans. Gut aussehende Romeos balzen auf Teufel komm raus, Drink in der einen, Zigarette in der anderen Hand.

Auch Amina, eine Freundin von Amal, ist mit 33 Jahren noch immer ledig. Ihre Familie lebt in Fès. "Sogar wenn ich in Fès Arbeit bekäme, würde ich nicht zurückziehen. Ich kann diese ständigen Fragen meiner Verwandtschaft nicht mehr hören: ,Na, Amina, hast du inzwischen ein Baby?‘" Den Männern traut sie genauso wenig wie Bouchra. "Das kenne ich schon: ,Mein Augenstern, ich kann ohne dich nicht leben!‘" Nichts weiter als zuckersüßes Wortgeklingel, sagt Amina, sagt Bouchra, sagt Amal. Erst geht es ins Bett und danach adios. "Wir sind bis zum heutigen Tag Jungfrau."

Das Stichwort ist gefallen: Jungfrau. Die Freundinnen überbieten sich gegenseitig mit haarsträubenden Geschichten. Dass die Gynäkologen jetzt für umgerechnet 1000 Mark das Hymen reparieren. Dass das Brautpaar noch immer, sogar in den Städten, nach der Hochzeitsnacht den Blutfleck vorzeigen muss. Sie erzählen von Slips, die auf einem silbernen Tablett unter Jubelgeschrei der Nachbarinnen durch die Straße getragen werden. Genug der Storys, Amal klopft auf den Tisch: "Jetzt wird getanzt, Mädels." Seit sie nicht mehr in Agadir arbeitet, sondern wieder bei den Eltern lebt, haben solche Abende Seltenheit. Auch für heute hat sie irgendeine Ausrede erfunden. "Wir alle führen zwei Leben gleichzeitig. Ein öffentliches und ein privates."

Anderntags lädt uns Amals Mutter zu Patisserie und Tee ein. Eine gebildete, berufstätige Frau, die ihre Djellabas selber näht, ihrer Tochter aber keine Kleidervorschriften macht. "Ich hatte in meiner Mutter immer ein positives Vorbild", sagt Amal. Mama machte der Tochter vor, wie man auch als verheiratete Frau eine gewisse Unabhängigkeit bewahren kann. Aus dem Arbeitszimmer des Vaters dringen arabische, gebetsartige Klänge. "Das ist modern und traditionell zugleich!", ruft er uns begeistert zu und demonstriert an seinem Computer den Koran per CD-Rom. Stereofon, dreisprachig, vierfarbig.

Semira, eine Arbeitskollegin der Mutter, kommt auf einen Sprung vorbei. Grüne Djellaba, langes, streng gebundenes Kopftuch, ungeschminkt. Freundlich erklärt sie uns, dass eines Tages – inschallah! – alle Muslima ein Kopftuch und eine Djellaba tragen werden, denn so schreibe es der Islam vor. Den neuen "Aktionsplan zur Entwicklung und Integration von Frauen" lehnt sie ab. Ihrer Meinung nach sind zu viele Punkte mit dem Islam nicht vereinbar. Natürlich sei es das gute Recht eines Moslems, vier Frauen zu heiraten. Selbstverständlich brauche auch eine erwachsene Frau einen Vormund. Sexualität vor der Ehe? "Ganz ohne Zweifel ist das Hurerei."

Genau dieser Aktionsplan aber soll die Modernisierung des marokkanischen Staates vorantreiben. Ausgearbeitet wurde er vom Staatssekretär des Ressorts "Familie und Kinder". Danach würde das auf dem Koran fußende Familienrecht durch bürgerlich-rechtliche Grundsätze abgelöst. Verstoßen der Frau statt Scheidung, Verheiratung vor dem 19. Lebensjahr, Polygamie und Vormundschaft wären dann eine Sache der Vergangenheit. Der junge König Mohammed VI. verkündete bereits bei seiner Thronbesteigung im Sommer 99, dass er den Marokkanerinnen mehr Rechte geben wolle.

Ein Signal der Hoffnung für die jüngere Generation. Eigentlich alles bestens. Das zeigten auch mehrere hunderttausend Menschen, die im März 2000 in Rabat auf die Straße gingen, um für den Fortschritt zu mobilisieren. Aber gleichzeitig marschierten in Casablanca fast eine Million Islamisten, nach Geschlechtern getrennt, gegen den Aktionsplan auf. Sie kamen in Bussen aus unterentwickelten ländlichen Gebieten und aus den Slums der Vorstädte zusammen. Wohlgemerkt nicht im konservativen Fès, nicht im frommen Meknès, sondern im modernen, "westlichen" Casablanca.

Hier steht auch die zweitgrößte Moschee der Welt, ein Wunderwerk der Technik, ins Meer gebaut, mit hydraulischem Dach, tonnenschweren Pforten aus Titan. Kosten: fast 800 Millionen Dollar. Der 1999 verstorbene König Hassan II. ließ die Moschee zwar durch Pflichtabgaben von seinem Volk finanzieren. Benannt hat er sie allerdings als Denkmal zu Lebzeiten nach sich selbst.

Der Gebetsvorplatz der Moschee Hassan II. erinnert in seinen gewaltigen Ausmaßen an den Roten Platz in Moskau oder den Tian’anmen-Platz in Peking. Gigantische öffentliche Leere, gebaut für Massenaufmärsche und Machtdemonstration.

Die Bürger von Casablanca nutzen den Platz auf ihre Weise. An der Kaimauer treffen sich jeden Spätnachmittag verliebte Paare, Freunde, Studentinnen mit ihren Kommilitonen. Fast so, als wäre das normal. Und für einen Augenblick hält Casablanca, was der Name verspricht: In der Abendsonne leuchten entlang der Meeresfront die Häuser ganz weiß.